M. Đokić: Eine Theaterlandschaft für Belgrad

Cover
Titel
Eine Theaterlandschaft für Belgrad. Verflechtungen nationaler und europäischer Theaterpraktiken 1841–1914


Autor(en)
Đokić, Marija
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa (16)
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Richter, Seminar für Slavistik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Marija Đokić hat als Ziel ihrer Untersuchungen formuliert, am Beispiel der für die Beförderung nationaler Identität wichtigen Institution Theater „die Umwandlung Belgrads von einer kleinen osmanischen Provinzstadt in eine europäische Hauptstadt sowie das gleichzeitige Wechselspiel der Nationalisierung und der Europäisierung am Beispiel des Theaters zu untersuchen“ (S. 8) und „Strukturen, Praktiken und Repräsentationen in der Theaterwelt und ihre Wechselbeziehungen zu rekonstruieren“ (S. 11). Dabei betrachtet sie das Theater als Quelle von und Akteur in soziokulturellen Veränderungen. Um die wachsende Vielfalt der Formate, Formen und Akteure hinreichend betrachten zu können, wird der weite Begriff der Theaterlandschaft genutzt. Darin besteht aus meiner Sicht einer der Vorzüge dieser Monografie1, denn die verbreitete Vorstellung von klar abgegrenzten nationalen Kulturinstitutionen wird so unterlaufen und durch eine „hybride Darstellung des Belgrader Theaterlebens“ (S. 10) ersetzt, die sich als ein Konglomerat aus Restaurants, Kafanas, Hotels, Wanderbühnen, Varietés und Tanztheatern präsentiert.

Bekanntlich sind Städte außerordentlich wichtig für Debatten in einer Gesellschaft, auch und gerade weil sie als Räume des Wandels wahrgenommen werden. Mit der Nationalstaatsbildung ging ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan ein gezielter Aufbau von Städten, besonders von Hauptstädten einher, zu deren Repräsentationspotential auch kulturelle Institutionen wie die hier fokussierte Institution Theater gehörten. Belgrad wurde 1841 Hauptstadt des damaligen Fürstentums Serbien; Đokićs Forschungen setzen daher mit diesem Jahr ein.

Marija Đokić nähert sich dem Gegenstand ihrer Forschungen aus verschiedenen Perspektiven, wobei sie ihre Fragestellungen und Ergebnisse überzeugend in den zeitgeschichtlichen, politischen und kulturellen Kontexten von De-Osmanisierung, Europäisierung und zugleich nationaler Identitätsbildung verortet. Methodisch bezieht sie sich auf Benedict Andersons Begriff von der imaginierten Nation, um gegen eine prononcierte Alleinstellung des Nationaltheaters als „starre[r] nationaler Kulturinstitution“ (S. 15) anzuschreiben, sie diskutiert das Hybriditätskonzept, nutzt Ansätze der Histoire croisée, der transnationalen Geschichtsschreibung sowie neuere Publikationen zur Geschichte und Soziologie des Theaters und der Vergnügungsindustrie in Westeuropa.

Die Studie ist in drei große Teile gegliedert. Im ersten Block „Belgrad als Theaterstadt“ wird dem komplizierten Entstehungsprozess des Nationaltheaters (eröffnet 1869) und dessen Entwicklung zu einer maßgeblichen Kulturinstitution nachgespürt. Gezeigt werden die Widersprüche, auch die Abwehrgesten, die finanziellen Hürden, das Streben nach einer Institution zur Pflege der nationalen Kultur auf der einen und das anfangs eher spärliche Interesse der städtischen Bevölkerung auf der anderen Seite. Besonders spannend und in ihrer Ausdifferenzierung neu sind die Ausführungen zur Entstehung neuer Theaterformen, zu multifunktionalen Vergnügungsorten, zu Kleinkunstbühnen, zu Gastspielen ausländischer Theatertrupps und Zirkussen, zum Amateurtheater, zum Auftritt von Gauklern und zahlreichen weiteren Phänomenen, die bisher in Publikationen zu kulturgeschichtlichen Zusammenhängen in Serbien keine Rolle gespielt haben.2 Neue Spektakelformen, Tanz- und Musiktheater künden um 1900 auch von einem Wandel in den Bedürfnissen der damaligen und zukünftigen Nutzer:innen des kulturellen Angebots in der Hauptstadt.

Der zweite Block „Belgrader Theaterwelt“ ist den Gestalter:innen von Theater im Spannungsfeld von Politik und kultureller Autonomie gewidmet. Hier geht es um die zahlreichen Direktionen des Nationaltheaters, um Bildungswege und auch internationale Netzwerke. Đokić geht Versuchen des Staates, das Theaterleben zu reglementieren, nach. Auf Betreiben des Schriftstellers, Dramatikers und zeitweiligen Direktors des Belgrader Nationaltheaters Milan Grol (1876–1952) wurde ein modernes Gesetz auf den Weg gebracht, in das Grol Aspekte deutscher und französischer Theatergesetzgebung einfließen ließ. Das Gesetz bestimmte das Nationaltheater zur führenden staatlichen Regulierungsinstanz für das Theaterwesen im Land, dem damit weitere Theater unterstellt waren. Die praktischen Konsequenzen einer staatlichen Regulierung der Theaterpraxis erläutert die Autorin zudem anhand der Praktiken von Zensur und Selbstzensur sowie anhand der Macht von Theaterdirektionen.[3]

Die Karriereprofile der Direktoren des Nationaltheaters, die als Staatsbeamte gegenüber Dynastie und regierender Partei loyal zu sein hatten, werden ergänzt durch eine ausführliche Vorstellung von Direktoren privater Theater, die ihr kulturelles Kapital besonders in München, Berlin, Prag und Wien erworben hatten. Letzteren schreibt Đokić jenseits von Parteigebundenheit und ausgestellter Dynastietreue größeren Innovationsgeist und ein ausgeprägtes Interesse an neuen Kunstformen zu (S. 189). Im letzten Abschnitt dieses Teils geht es um das soziale Profil und die prekären Lebenssituationen der Belgrader Schauspieler:innen im Untersuchungszeitraum, um das Engagement für ein soziales Versorgungssystem. Marija Đokić zeigt, wie sich der Status der Schauspieler:innen Anfang des 20. Jahrhunderts durch Formen beginnender Organisierung in Interessengruppen, durch Ausbildung und Aufenthalte in europäischen Theaterzentren allmählich veränderte. Sie erfuhren eine gesellschaftliche Aufwertung und langlebige Vorurteile gegenüber diesem Beruf und besonders gegenüber schauspielernden Frauen wurden laut Đokić schwächer. Den Beiträgen von Schauspielerinnen zur Frauenemanzipation misst die Autorin im Unterabschnitt „Frauen im Theatergeschäft – ein unmoralischer Beruf?“ besonderes Gewicht bei.

Der dritte Teil ist mit „Nationale Ideologien im Theater“ überschrieben. Hier wird nachgewiesen, dass die zaghafte Verstädterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die kulturellen Emanzipationsprozesse insoweit vorangetrieben hat, dass gerade auch auf der Bühne des Belgrader Nationaltheaters als „Tempel der patriotischen Religion“ (S. 250)[4] trotz des Beharrens auf der nationalen Kultur (historische Dramen, Tragödien der Spätromantik) eine Europäisierung des Repertoires erfolgte. Gemäß quantitativer Spielplananalyse hieß das weg vom deutschen Einfluss hin zu französischen Autoren, die europaweit in Hauptstädten aufgeführt wurden. Die Orientierung an internationalen Trends hatte positive Auswirkungen auf Gastspielaktivitäten in Belgrad. Diese Hervorhebung von nationaler Identität, Internationalisierung resp. Europäisierung, auch des Strebens nach der (politischen) Einheit des Balkans, wird ergänzt durch die von Marija Đokić erörterten Bemühungen um die jugoslawische Idee in Bezug auf Theater. Die Aktivitäten zur Bildung einer jugoslawischen „Theatergemeinschaft“ (S. 276) können ein Impuls sein, über weiterführende, auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausgreifende Untersuchungen nachzudenken. Das beträfe beispielsweise Studien zum weiteren Austausch von Ideen, Akteuren und Theaterprojekten, zur weiteren Entwicklung einer jugoslawischen „Theaterlandschaft“ in der Zwischenkriegszeit, zum Beitrag des Theaters für ein jugoslawisches Kulturverständnis zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus.

Natürlich ist eine Entwicklung aus dem Nationalen heraus stets an wichtige Mittlerfiguren kulturellen Transfers gebunden, auf die auch die Autorin Bezug nimmt: Exemplarisch sei auf Maga Marija Magazinović (1882–1968) verwiesen, die als freie Künstlerin im Buch an mehreren Stellen gewürdigt wird. Sie gehört zu den engagierten Frauen aus Serbien[5], die im gesellschaftlichen Kontext nach der Wende zum 20. Jahrhundert aus dem nationalen Rahmen heraustraten, Grenzen überwanden und zur Erweiterung weiblicher Tätigkeitssphären und zur kulturellen Modernisierung beitrugen.

Đokićs Studie endet schließlich mit der Schlussfolgerung, dass die „Belgrader Theaterlandschaft sich […] am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht grundlegend von der zeitgleichen Theaterkultur anderer europäischer Großstädte [unterschied].“ (S. 296). Dem im knappen Fazit nochmals formulierten Anspruch der Monografie, im Kontext des von einem „Wechselspiel zwischen Nationalisierungs- und Europäisierungsbestrebungen“ (S. 295) geprägten Urbanisierungsprozesses der Stadt Belgrad bis 1914 die Entwicklung der Theaterlandschaft als Seismograph und Akteur von Veränderungen zu diskutieren, ist die Autorin gerecht geworden. Das gleiche gilt für ihre Intention, diese Landschaft anders, das heißt jenseits der bisher auf das Nationaltheater und das Nationale konzentrierten Forschungen zu denken, der sie mit der konsequenten Einbeziehung neuer Theater- und Vergnügungsformen und der Herausarbeitung transnationaler Verflechtungen, nachkommt. Spannend wäre hier sicher auch eine noch stärker vergleichende ästhetische Rekonstruktion von Aufführungsstilen in den Blick zu nehmen, um weitere Aussagen über den Grad des kulturellen Transfers zu treffen.

Das gut strukturierte Buch profitiert ohne Wenn und Aber von einer für eine Dissertation imposanten Fülle an sehr aufschlussreichem Quellenmaterial (Korrespondenzen, Pressemeldungen und Zeitschriften, (Auto-)biografien, Fotosammlungen, Nachlässe), das bisher kaum beachtet wurde. Marija Đokić kann daher für ihre Studie in Anspruch nehmen, die Ausdifferenzierung der Formen von Theater bis zum Ersten Weltkrieg und die Verbindung (kultur-)historischer Fakten, kultureller Berührungspunkte und Kontakte sowie Nachweise zur wechselnden Integration der serbischen Theaterlandschaft in internationale Entwicklungsprozesse bei gleichzeitiger Nationalisierung überzeugend dargestellt zu haben. Die Studie schließt nicht nur eine Forschungslücke in der (kultur-)geschichtlichen Forschungslandschaft, sondern erlaubt darüber hinaus grenzüberschreitende Erkenntnisgewinne der kulturellen Veränderungsprozesse in Serbien jenseits balkanistischer Stereotypisierungen.

Anmerkungen:
1 Die vorliegende Monografie wurde mit dem Andrej-Mitrović-Preis der Michael-Žikić-Stiftung und dem Förderpreis der Fritz und Helga Exner-Stiftung ausgezeichnet.
2 Im serbischen Standardwerk „Istorija srpskog pozorišta od srednjeg veka do modernog doba (drama i opera)“, 5 Bde., Belgrad 2014–2018 von Borivoje Stojković (1909–1984), das im Kontext des 100-jährigen Jubiläums des Nationaltheaters Belgrad erneut herausgegeben wurde, liegt der Fokus – anders als bei Marija Đokić – nicht auf der internationalen Verflechtungsgeschichte der serbischen Theaterlandschaft, sondern vielmehr auf dem nationalen Kontext. Eine nicht-staatliche Theater- und Vergnügungskultur wird angerissen in Dubravka Stojanovićs „Kadrma i asfalt. Urbanizacija i evropjizacija Beograda 1890–1914“, Belgrad 2013.

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